Holger Broeker (HB), Leiter der Sammlung und Elena Engelbrechter (EE), Kuratorin im Interview mit Sarah Groiß (SG), Kunstvermittlung.
Lieber Holger vor 30 Jahren wurdest du ans Kunstmuseum Wolfsburg berufen, um die Sammlung für das Museum aufzubauen. Das hört sich nach einer sehr großen und unheimlich spannenden Aufgabe an. Wie bist du dabei vorgegangen?
Ein Jahr bevor wir mit dem Sammeln begonnen haben, wurde ein Konzept erarbeitet, nach dem gesammelt werden sollte. Der zweite Schritt bestand darin, im Umkreis von einer Tagestour, also etwa von 200 Kilometern, zu prüfen, ob die betreffenden Künstler*innen bereits in anderen Museumssammlungen vertreten waren – was glücklicherweise nicht der Fall war. Dann haben wir begonnen, von diesen Künstler*innen erst ganz zentrale, dann kleinere Arbeiten zu erwerben. Wir wollten uns auf wenige Künstler*innen konzentrieren, von denen wir aber ganze Werkgruppen erwerben wollten oder aber anhand von ausgesuchten Werken zeigen wollten, wie sie sich im Laufe der Jahre künstlerisch entwickelt haben.
Viele Künstler*innen die damals angekauft wurden, waren zu jener Zeit noch nicht so bekannt, wie sie es heute sind. Ich denke z. B. an Jeff Koons, der heute zu einem der bekanntesten und teuersten Künstler weltweit gehört. Woher weiß man, was später einmal eine große Bedeutung für die Kunstwelt haben wird?
Wir kannten damals natürlich bereits das Prinzip, nach dem Jeff Koons in seiner Kunst gearbeitet hat. Da musste man halt schauen, dass man eine Arbeit fand, die besonders überzeugt hat, indem sie zum Beispiel viele Fragen stellt und bewusst offenlässt. Dann muss man sich einfach mit ihr beschäftigen. Sie lässt einen nicht mehr los.
Und so habt ihr euch dann für die Arbeit Bear and Policeman entschieden?
Genau.
Der Bekanntheitsgrad einer Künstler*in ist sicher nicht das einzige Kriterium bei der Auswahl eines Kunstwerks. Was sind für dich überhaupt wichtige Kriterien bei der Auswahl der Kunstwerke für die Sammlung?
Zum einen sind es natürlich Vorgaben, die durch das Sammlungskonzept gegeben sind. Also zum Beispiel Themen wie Natur, Technik und Produktion, weil diese unseren Standort hier in der Region Wolfsburg/Braunschweig prägen. Zum anderen sind es aber auch Fragen, die man sich selbst stellen muss: Was geht uns an? Was wird davon bleiben? Was wird vergessen werden? Womit wird man sich später noch auseinandersetzen wollen? Was bereichert das eigene Leben – bestenfalls immer wieder neu? Letztlich sammelt man aber nicht für sich selbst, sondern für das Museum, also für die Gesellschaft. Das unterscheidet eine Museumssammlung von einer Privatsammlung. Der Privatsammler ist mit seinen Entscheidungen nur für sich selbst verantwortlich.
Das ist sehr spannend. Darüber habe ich so noch gar nicht nachgedacht. Man sammelt also auch nicht einfach das, was einem gefällt oder was gerade aktuell ist, sondern denkt die Zukunft immer auch mit.
Richtig, so sollte es sein.
Und wenn du dich jetzt für ein Kunstwerk entschiedenen hast – wie kommt es dann eigentlich ins Museum?
Die Entscheidung, ob ein Kunstwerk in die Sammlung aufgenommen wird, trifft letztlich der Direktor, da er ja für alles, was im Museum geschieht, verantwortlich ist. Ich unterbreite nur Vorschläge und regle den Erwerbungsprozess, wenn das Werk erworben werden soll. Ein Erwerb kann ein Ankauf oder eine Schenkung sein. Dazu gehören Verhandlungen mit Galeristen oder auch Menschen, die uns Kunstwerke schenken. Ich setze Verträge auf, kümmere mich um die Erstellung von Gutachten von Kunstsachverständigen, die Nutzungsrechte (vor allem die Bildrechte) und vereinbare dann in Abstimmung mit unserer Leiterin Art Handling Transport und Anlieferung.
Das ist also ein sehr umfangreicher Prozess. Was passiert dann mit dem Kunstwerk hier vor Ort?
Hier vor Ort wird das Kunstwerk ausgepackt und protokolliert. Idealerweise schaut sich unsere Restauratorin das Werk an, bevor es zu uns ins Haus kommt bzw. wir uns dafür entscheiden. Der Zustand eines Werkes beeinflusst schließlich auch seinen Wert. Das Werk muss also vollständig sein und in einem guten Zustand, sodass man es ausstellen kann. Kunstwerke altern aber auch sehr unterschiedlich. Je nach Alter und Material müssen mit der Zeit Restaurierungen vorgenommen werden. Bei digitalen Medien muss man sogar von Zeit zu Zeit die Daten auf neue Träger und Systeme bringen, weil die Technik veraltet und sie irgendwann nicht mehr abspielbar ist.
Man muss also auch zu den Kunstwerken forschen?
Ja, das ist auch ein Forschungsprozess. Die Auseinandersetzung mit der Technik eines Kunstwerks ist ein Teil davon. Es gibt natürlich auch inhaltliche Themen und die Bezüge der Kunstwerke untereinander zu erforschen.
Nach ganzen 30 Jahren Sammeltätigkeit und Arbeit für das Museum kann ich mir vorstellen, dass es sehr viel zu zeigen gibt. Was war deine Idee für die große Sammlungsshow zum Jubiläum des Kunstmuseum Wolfsburg?
Ich habe mir überlegt, was eigentlich die Summe dieser 30 Jahre sein könnte, ohne dass man alles zeigen muss. Also mehr die Essenz. Und das waren dann die Themen, die uns in diesen 30 Jahren wichtig waren, die uns beschäftigt haben, und zu denen wir immer wieder Kunstwerke fanden, die uns angesprochen haben. Und dabei fiel mir auf, dass fast alle dieser Themen auch schon Künstler*innen vor Hunderten von Jahren beschäftigt hatten. Und im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig konnte ich mir dann im Rahmen unserer Kooperation aus deren Sammlung für jedes Thema ein Kunstwerk aussuchen und es unseren Werken gegenüberstellen. Eine absolut spannende Angelegenheit, weil sich hier zeigt, dass diese damals zeitgenössischen Werke erfolgreich für die Zukunft gesammelt worden sind. Und diese Zukunft ist – jetzt! Ich hoffe sehr, dass man das auch einmal von unseren zeitgenössischen Werken in 300 Jahren sagen kann.
Oh ja! Es gibt auch ein Kunstwerk, das genau das zum Ausdruck bringt.
Ja, das ist von Michel Majerus und heißt What looks good today may not look good tomorrow.
Liebe Elena, du arbeitest derzeit als Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Museum und hast dich zuletzt stärker dem Bereich der Sammlung gewidmet. Was ist dein Blick auf die Sammlung und gibt es schon Pläne für Ausstellungen der Sammlung in der Zukunft?
Es gibt schon sehr viele Ideen! Meine Schwierigkeit wird wohl darin bestehen, sich letztlich zu entscheiden, welcher Idee ich zuerst nachgehe. Die Sammlung umfasst nun mehr als 1.000 Werke, was bedeutet, dass es eine Vielzahl von interessanten Aspekten gibt, die es genauer zu erforschen gilt. Anders als Holger, der die Erwerbungsgeschichte eines jeden Werkes genau kennt und begleitet hat, muss ich mich erst in die einzelnen Werke, in ihre Geschichte und somit auch die Sammlungsgeschichte des Museums hineinarbeiten. Durch die intensive Beschäftigung werden für mich immer mehr Verbindungen zwischen den verschiedensten einzelnen künstlerischen Arbeiten und Konvoluten sichtbar, dabei entdecke ich auch inhaltliche Bezüge, die auf den ersten Blick nicht offensichtlich sind. Diese „Entdeckungen“ machen das Arbeiten mit der Sammlung für mich so unglaublich spannend und reizvoll.
Was sind das für inhaltliche Bezüge?
Es gibt so viele spannende Themen. Ich habe dazu eine ganze Liste für mich als gedankliche Stütze erstellt. Ich habe zum Beispiel gesehen, dass es viele Arbeiten in der Sammlung gibt, in denen die Hände und Gesten eine wichtige Rolle spielen. Zentrale Themen sind u.a. auch die Musik, Jugendkultur oder Erinnerungs- sowie Horrormomente.
Sammlungsarbeit an einem Museum ist also eine Never Ending Story?
Ja, so kann man das sehr schön ausdrücken. Eine Arbeit, die nie aufhört und die immer auch in die Zukunft gerichtet ist.
Zum Abschluss hätte ich noch persönliche Fragen an euch: Holger du hast Kunstgeschichte an der Justus-Liebig-Universität in Gießen studiert. War es schon immer dein Wunsch, einmal Leiter einer Sammlung an einem Museum zu werden?
Ich bin in einem Künstlerhaushalt aufgewachsen und war schon immer gleichermaßen an Gegenwartsfragen und historischen Zusammenhängen interessiert. Und ich hatte das große Glück, schon zu einem frühen Zeitpunkt Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Moderne und Gegenwart studieren zu dürfen. Während meines gesamten Studiums hatte ich mit Museumsarbeit zu tun, sodass für mich relativ schnell klar war, dass ich diesen Weg einschlagen würde.
Elena du hast ebenfalls Kunstgeschichte studiert … wie war dein Weg zum Museum?
Wenn man Kunstgeschichte studiert hat, gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten sowie Arbeitsfeldern. Durch Praktika in unterschiedlichen Institutionen sowie der Beteiligung an verschiedenen Ausstellungs- und Vermittlungsprojekten hat sich für mich sehr schnell herauskristallisiert, dass ich später im Museum arbeiten möchte, denn zu den Kernaufgaben eines Museums zählen unter anderem das Sammeln und Bewahren. Mit diesen Aufgaben sind sehr unterschiedliche und facettenreiche Tätigkeiten verbunden sowie das Arbeiten mit unterschiedlichsten Akteur*innen und Netzwerken, die das Museum für mich zu einem besonderen Ort machen.
Was war jeweils euer lustigstes Erlebnis bei der Arbeit für die Sammlung?
Holger kann natürlich von sehr vielen lustigen Begegnungen aus erster Hand berichten. Derzeit arbeite ich beispielsweise die Arbeit Egg Grows, No. 4 von Nam June Paik neu auf, da sie seit 2009 erstmals wieder bei uns im Haus gezeigt wird. Das Sichten der Erwerbungsakten hat mir unglaublich viel Freude und Spaß bereitet. Generell empfehle ich allen, ein Interview von Nam June Paik zu lesen, da der koreanische Künstler einen ganz einzigartigen Mix aus Deutsch und Englisch sprach – das ist fast schon Prosa! Und sehr unterhaltsam und lustig nebenbei …
Die lustigsten, um nicht zu sagen die kuriosesten Erlebnisse haben sich tatsächlich in der Zusammenarbeit mit den Künstler*innen ergeben. Als wir mit Douglas Gordon an einem Modell für seine Ausstellung in unserer großen Halle arbeiteten, hat er sich heftig an einer Nadel gestochen, was ihn dazu bewog, das Modell seiner Ausstellung ausführlich mit seinem eigenen Blut zu signieren – schottischer Humor eben.
Wunderbar 😊. Lieber Holger und liebe Elena, ich danke euch vielmals für das Gespräch.